Geschlossene Psychiatrie: Risiko für Suizid und Weglaufen ist nicht geringer

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  • Artikel: 29.07.2016

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In offenen psychiatrischen Kliniken ist das Risiko, dass Patienten Suizid begehen oder aus der Behandlung fliehen, nicht größer als in psychiatrischen Kliniken mit geschlossenen Stationen. Zu diesem Ergebnis kommt eine groß angelegte Studie der Universität Basel und der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.

Patienten, die Suizidversuche oder Suizid begehen oder aus der Klinik weglaufen, sind eine große Herausforderung für alle medizinischen Institutionen. Ein besonderes Problem stellen sie für psychiatrische Einrichtungen dar. Deshalb gibt es in vielen psychiatrischen Kliniken geschlossene Stationen, in denen Risikopatienten untergebracht werden. Die Begründung: Nur wenn die Patienten von Suizidversuchen und Flucht abgehalten werden, können sie ausreichend geschützt werden und eine angemessene Therapie erhalten.

Allerdings fehlt bisher ein wissenschaftlicher Nachweis, dass geschlossene Stationen tatsächlich selbstgefährdendes Verhalten und Selbsttötungen verhindern können. Nun hat ein Forscherteam um Christian Huber und Undine Lang rund 350.000 Fälle aus der Zeit von 1998 bis 2012 untersucht – also in einem Zeitraum vom 15 Jahren. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher in der Fachzeitschrift „The Lancet Psychiatry“ (Online-Ausgabe vom 28. Juli).

Die Daten stammten aus 21 deutschen Kliniken, von denen fünf eine Praxis der offenen Türen verfolgten, also ganz ohne geschlossene Stationen auskamen. 16 Kliniken besaßen zusätzlich zu offenen Stationen auch zeitweise oder dauerhaft geschlossene Stationen. Alle Kliniken waren rechtlich verpflichtet, alle Personen eines bestimmten Einzugsbereichs aufzunehmen – unabhängig von der Schwere der Erkrankung oder einem selbstgefährdenden Verhalten der Patienten.

Patienten sollten Autonomie behalten und in Entscheidungen einbezogen werden

Die Auswertung zeigte: Suizidversuche und Suizide treten in Kliniken mit geschlossenen Abteilungen nicht seltener auf als in Kliniken ohne geschlossene Stationen. Außerdem waren in Kliniken mit „offenen Türen“ nicht mehr Fluchten zu beobachten. Stattdessen war die Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche und Flucht an Kliniken ohne geschlossene Abteilungen sogar signifikant geringer – allerdings nicht die Wahrscheinlichkeit für vollendete Suizide.

„Die Wirkung von geschlossenen Kliniktüren wird überschätzt“, betont Erstautor Christian Huber. „Eingeschlossen zu sein verbessert in unserer Untersuchung die Sicherheit der Patienten nicht und steht der Vorbeugung von Suizid und Entweichung teilweise sogar entgegen.“ Eine Atmosphäre von Kontrolle, eingeschränkten persönlichen Freiheiten und Zwangsmaßnahmen gefährde stattdessen eher eine erfolgreiche Therapie, so der Forscher.

Die Ergebnisse der Studie seien wichtig für die Emanzipation von Patienten in der Psychiatrie und für die Vermeidung von Stigmatisierung, betont Undine Lang, die Seniorautorin der Studie. „Die Behandlung sollte künftig vermehrt auf ethische Standards fokussieren, in denen die Betroffenen ihre Autonomie möglichst bewahren können“, so Lang. Außerdem sollten auch eine gute therapeutische Beziehung und eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit den Patienten gefördert werden.

Darüber hinaus könnten die Ergebnisse auch juristische Fragestellungen beeinflussen, die sich bei der Frage nach der Öffnung von Kliniken ergeben.

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